- Türkei: Zwischen Kemalismus und Tradition
- Türkei: Zwischen Kemalismus und TraditionEin Rückblick auf 75 Jahre Republik Türkei zeigt, dass sich das Land allen Schwierigkeiten zum Trotz nicht nur als lebensfähig erwiesen hat, sondern auch im Vergleich zu seinen nahöstlichen und südosteuropäischen Nachbarn als besonders stabil. Mustafa Kemal Atatürks Leistung liegt nicht nur in der Schaffung eines souveränen Staats, sondern auch in der Herausbildung einer (ersten) staatstragenden Generation, der »Generation von 1908«, die ab 1938 von einer zweiten abgelöst wurde, die sich seinem Werk verpflichtet fühlte.Die Türkei unter İsmet İnönü (1938—50)Nach Atatürks Tod zweifelte niemand, dass İsmet Pascha, einer seiner engsten politischen Weggefährten, »zweiter Mann« im Staat, seine Nachfolge an der Spitze der türkischen Republik antreten werde. Mit einer kurzen Unterbrechung (1924/25) leitete İsmet Pascha, seit 1935 İsmet İnönü, von 1923 bis 1937 als Ministerpräsident die Regierung. Am 11. November 1938 wählte ihn die Nationalversammlung mit 348 von 387 gültigen Stimmen zum zweiten Präsidenten der Republik. Mit dieser Wahl waren ihm die Beinamen »Ständiger Vorsitzender der Partei« und »Nationales Oberhaupt« angetragen worden. Durch die Annahme dieser Titulatur schloss İnönü an die Vollmachten Atatürks an. Wenig später übernahm er auf Lebenszeit den Vorsitz der Republikanischen Volkspartei.Nachdem 1939 und 1943 die Wahlen zur Nationalversammlung auf der Basis eines aus jungtürkischer Zeit stammenden zweistufigen Wahlmodus indirekt erfolgt waren, durfte die türkische Bevölkerung am 21. Juli 1946 zum ersten Mal ihre Stimme in direkter Wahl abgeben. Die Republikanische Volkspartei (CHP) İnönüs gewann 390 von 465 Sitzen. Die kurz zuvor von Abtrünnigen der Volkspartei gegründete Demokratische Partei (DP) musste sich mit 65 Abgeordneten begnügen. Obwohl sich die Volkspartei mit ihrem Programm nach 1946 zunehmend der DP genähert hatte, gelang dieser im Mai 1950 der Durchbruch. Aufgrund des Mehrheitswahlsystems genügten 53,3 Prozent der Stimmen, um 408 Parlamentsmandate zu erringen. Zum ersten Mal in der Geschichte der türkischen Republik war ein demokratischer Regierungswechsel erfolgt. Neben der Überleitung des Landes vom semiautoritären Kurs zum Mehrparteiensystem war es das historische Verdienst İnönüs, die Türkei aus dem Zweiten Weltkrieg herausgehalten und die atatürkschen Kulturreformen energisch weitergeführt zu haben.Bewaffnete NeutralitätNach dem italienischen Einmarsch in Albanien (April 1939) veröffentlichten Großbritannien und die Türkei eine Deklaration, der sich Frankreich anschloss. Mit der Abtretung des Sandschak, so wurde die zum französischen Mandatsgebiet Syrien gehörende Provinz İskenderun (Alexandrette) bezeichnet, im September 1939 an die Türkei hatte die französische Regierung Ankara für sich gewonnen. Die nun nach einem fiktiven hethitischen Wort »Hatay« genannte Provinz blieb der einzige Gebietszuwachs der Türkei nach dem Friedensschluss von Lausanne (1923). Der Beistandspakt mit Frankreich und Großbritannien vom 19. Oktober 1939 sowie der Nichtangriffspakt vom 18. Juni 1940 mit Deutschland sicherte die Türkei nach außen ab. Ein Unsicherheitsfaktor blieb die Sowjetunion, die besonders in dem Vertrag mit Frankreich und Großbritannien einen unfreundlichen Akt sah. Der deutsche Einmarsch in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurde in der Türkei begrüßt, weil er den Druck verminderte, den Moskau und Berlin auf das Land ausübten.Die türkische Diplomatie war nun in der Lage, von einer Position der bewaffneten Neutralität aus die Krieg führenden Parteien gegeneinander auszuspielen. In den Jahren 1941 bis 1943 bezog das Land zeitweise, im Austausch gegen Chrom und Agrarprodukte, Rüstungsgüter von beiden Seiten. Trotz starker Sympathien großtürkisch gesinnter Kreise für das Deutsche Reich hielt sich das offizielle Ankara zurück. Aber auch nach der deutschen Niederlage von Stalingrad gab die Türkei ihre Neutralität nicht auf. Erst als es keine Zweifel mehr an der deutschen Niederlage gab, brach Ankara die Beziehungen zu Berlin am 2. August 1944 ab. Am 23. Februar 1945 beschloss das türkische Parlament einstimmig, Deutschland und Japan den Krieg zu erklären. Der britische Botschafter hatte der Türkei zuvor deutlich gemacht, dass eine Teilnahme an der konstituierenden Versammlung der Vereinten Nationen, die am 25. April 1945 in San Francisco zusammentreten sollte, von diesem Schritt abhinge.Obwohl im Zweiten Weltkrieg eine Mobilmachung nie förmlich erklärt worden war, standen auf dem Höhepunkt des Kriegs bis zu anderthalb Millionen Türken unter Waffen, eine Größenordnung, die den Staatshaushalt stark belastete. In dieser Zeit litt die Bevölkerung unter dem Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel. 1942 erließ die Regierung eine kurzfristig fällige Sondersteuer auf Vermögen, die besonders die nichtmuslimischen Kaufleute und Industriellen in Istanbul traf. Die uneingestandene Absicht der Regierung war es, das muslimisch-türkische Kapital durch die Ausschaltung christlicher und jüdischer Konkurrenten zu privilegieren.Die Fortsetzung der KulturreformenUnter dem Erziehungsminister Hasan Âli Yücel trieb der türkische Staat Kulturreformen auf allen Ebenen voran. Bis 1950 war die Zahl der bereits seit 1932 eingerichteten Volkshäuser auf nahezu 500 angewachsen. Sie organisierten Kurse in Sprache, Literatur, Geschichte, Kunst, Theater, Sport und Wohlfahrtswesen, außerdem entfalteten sie eine beachtliche Museums- und Ausstellungstätigkeit. Eine besondere Errungenschaft waren die Dorfinstitute zur Ausbildung von Landschullehrern. In diesen 1940 bis 1946 bestehenden Schulen wurden Bauernkinder nach dem Besuch der fünfklassigen Grundschule auf den Lehrerberuf vorbereitet.Das höhere Bildungswesen in Istanbul und Ankara wurde durch die Berufung zahlreicher Ausländer, besonders von Emigranten aus Deutschland, und großzügige Bauten weiter gefördert. Ein Universitätsgesetz gewährte 1946 den türkischen Hochschulen ein hohes Maß an Autonomie. Architektur, Malerei und Skulptur erlebten nach der Rückkehr junger Künstler aus Frankreich und Deutschland eine bemerkenswerte Blüte. Die Unterstützung westlicher Musik- und Theaterkultur erreichte einen Höhepunkt mit der Berufung von Carl Anton Ebert an das 1940 gegründete Staatskonservatorium in Ankara. Erstaunlich effizient war das von Yücel ins Leben gerufene Übersetzungsbüro, in dessen Rahmen eine Handvoll von Literaten und Wissenschaftlern zwischen 1940 und 1946 nahezu 500 Klassiker der Weltliteratur ins Türkische übertrug. Die bewusste Vernachlässigung traditioneller Kunstformen fassten die konservativen Intellektuellen als Provokation auf.Eine neue Kraft — Das MenderesjahrzehntNach dem Wahlsieg der Demokratischen Partei im Mai 1950 wählte die Nationalversammlung Celal Bayar zum Staatspräsidenten, Adnan Menderes zum Ministerpräsidenten (1954 und 1957 in ihren Ämtern bestätigt). In den ersten Jahren unter der Ministerpräsidentschaft Menderes erlebte die Türkei ein beispielloses Wirtschaftswachstum, an dem sowohl Landwirtschaft als auch Industrie und Bauwesen beteiligt waren (11,3 Prozent im »Korea-Boom«). Ende der Fünfzigerjahre sank das jährliche Wachstum jedoch auf unter drei Prozent, das Verhältnis von Ein- und Ausfuhr verschlechterte sich und die Inflation nahm zu.Eine zwischen 1943 und 1945 erhobene Sondersteuer auf Agrarprodukte wurde nach Kriegsende aufgehoben. Der Druck agrarischer Kreise verhinderte ein Gesetz im Rahmen der Steuerreform des Jahres 1950. Erst 1963 wurden nach 40 Jahren wieder Steuern auf Einkünfte aus Land- und Forstwirtschaft erhoben. Die ländliche Besitzstruktur — es gab überwiegend kleine und mittlere Betriebe — wurde durch eine halbherzig durchgeführte Landreform zwischen 1947 und 1962 kaum verändert. Sie führte lediglich zur Verteilung von 1,8 Millionen Hektar Land an 360000 Familien. Die großen Grundbesitzer des Südostens und der Çukurova blieben insgesamt verschont. Die sprunghafte Mechanisierung der Landwirtschaft ab 1948, diese Traktorenrevolution, hatte dagegen weit reichende Folgen: Einerseits wuchs die landwirtschaftliche Nutzfläche bis 1959 auf fast das Doppelte, und Weizen konnte wieder — wie vor der Weltwirtschaftskrise — exportiert werden, andererseits nahm die Abhängigkeit kleiner Bauern von reichen Grundbesitzern zu, von denen sie Maschinen im Tausch gegen Produkte liehen. Eine große verdeckte Arbeitslosigkeit und die Abwanderung in die Städte sind nachhaltige Folgen dieses Prozesses. 1961 setzte die Arbeitsmigration nach Deutschland und in andere europäische Staaten ein.Beim Wechsel der Alleinherrschaft der Volkspartei zur parlamentarischen Demokratie waren Zeichen religiösen Erwachens unübersehbar. Zwischen 1945 und 1950 bildeten sich mehrere politische Parteien mit eindeutig islamistischer Zielsetzung. Das İnönüregime kam diesen Entwicklungen teilweise entgegen, offensichtlich um bei den bevorstehenden Parlamentswahlen 1950 besser vor der ländlichen Wählerschaft zu bestehen: So befürwortete es die Eröffnung von Schulen für Vorbeter und Prediger — die letzten Einrichtungen dieser Art waren 1929 geschlossen worden —, die Gründung einer »aufgeklärten« theologischen Fakultät an der Universität Ankara 1949 und die Öffnung von Mausoleen osmanischer Herrscher. Die Wähler honorierten diese deutlichen Gesten jedoch nicht. Auch die nach den Wahlen von 1950 regierende DP musste sich mit extremen islamistischen Ansprüchen auseinander setzen. Aus den Provinzgliederungen der Partei kamen Forderungen, die Polygamie wieder zuzulassen und zur arabischen Schrift zurückzukehren. Während sich die Menderesregierung in dieser Hinsicht als unnachgiebig erwies, versetzte sie mit der Schließung der Volkshäuser und Dorfinstitute den kemalistischen Errungenschaften einen schweren Schlag. Die erste auffällige Konzession, die die Demokratische Partei den konservativen Muslimen gewährte, war im Juni 1950 die Rückkehr zum arabischen Gebetsruf. Ein weiterer Schritt war die Zulassung von Rezitationen aus dem Koran im staatlichen Rundfunk. Im Schulbereich erfolgten die wichtigsten Weichenstellungen mit der Wiedereinführung des Religionsunterrichts an den Grundschulen 1950 und an den Mittelschulen 1956. In Istanbul wurde 1959 ein Hohes Islaminstitut eröffnet.Die Bindungen der Türkei an den WestenMit dem Beitritt zur NATO reagierte die Türkei weniger auf sowjetische Forderungen nach Mitsprache bei der Meerengenverwaltung und auf von Georgien und Armenien 1945 höchst vage formulierte Gebietsansprüche. Vielmehr suchte die türkische Regierung den Anschluss an die USA, von denen man sich eine Hilfe bei der Beseitigung wirtschaftlicher Engpässe, bei der Modernisierung der Armee und beim Durchbrechen der politischen Isolation versprach. Die Aufforderung des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman an den Kongress, »nicht viel mehr als ein Zehntel von einem Prozent der Ausgaben im letzten Krieg für Griechenland und die Türkei zur Verfügung zu stellen« (12. März 1947), markiert den Beginn des amerikanischen Engagements in der Türkei. Bereits im Juli 1948 wurde das Land in den Marshallplan aufgenommen. Am 25. Juli 1950 gab die Regierung einen unmittelbar zuvor im engsten Führungskreis gefassten Beschluss bekannt, der in der Geschichte der Republik ohne Vorbild war: einer fremden Macht Truppen zur Verfügung zu stellen. Die Entsendung einer türkischen Brigade (etwa 4500 Mann) im Rahmen einer UNO-Streitmacht nach Korea erleichterte die Aufnahme der Türkei (und Griechenlands) in den Atlantikpakt. Als wertvoller Trumpf erwies sich die Möglichkeit, der amerikanischen Luftwaffe in der Türkei Stützpunkte zur Verfügung zu stellen. Am 21. September 1951 beschloss die NATO, die Türkei zum 18. Februar 1952 als Mitglied aufzunehmen. Der Beitritt zu anderen Sicherheitssystemen (Bagdadpakt 1955 und seinem Nachfolger, der Central Treaty Organisation, CENTO, bis 1979) war von vorübergehender Bedeutung. 1959 beantragte die Türkei die Assoziation mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Nach dem Ankaraner Abkommen zwischen der Türkei und den sechs Mitgliedsstaaten der EWG und dem Zusatzprotokoll von 1973 begann eine Übergangsphase, die 1999 rechtlich noch andauert. Der Antrag der Türkei auf Vollmitgliedschaft in der EG wurde am 5. Februar 1990 vom EG-Ministerrat abschlägig beschieden.Innenpolitik 1960 bis 1980Die wirtschaftliche Unzufriedenheit weiter Bevölkerungskreise, die Frustration von Angehörigen der Streitkräfte über ausbleibende Modernisierung und Beförderung, aber auch die Besorgnis vieler Gruppen über die Revision der kemalistischen Reformen führten zum Staatsstreich vom 27. Mai 1960. Der an der Vorbereitung des Putsches nicht unmittelbar beteiligte Kommandeur der Landstreitkräfte Cemal Gürsel wurde zum vierten Staatspräsidenten (1961—66) bestimmt. Ein Sondergericht verurteilte 15 Politiker der Demokratischen Partei zum Tode; drei dieser Todesurteile, unter anderem gegen Menderes, bestätigte das Komitee für Nationale Einheit. Celal Bayar wurde aus Altersgründen verschont. Die jungen Offiziere des Komitees beeilten sich mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung, die die stark auf Atatürk zugeschnittene Grundordnung von 1924 ersetzen sollte. Gleichzeitig wurden rechts- und wohlfahrtsstaatliche Akzente gesetzt. Die Verfassung von 1961 bestätigte die seit 1947 erlaubte Bildung von Gewerkschaften und anerkannte das Streikrecht. 1971 überschritt die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter die Millionengrenze. Gleichzeitig wurde den Arbeitgebern das Recht auf Aussperrung zugestanden. In den Sechzigerjahren entstand die Solidargemeinschaft der Armee, eine Art Zwangssparkasse, die sich zu einem bedeutenden militärisch-industriellen Komplex entwickelte: Rund 10 Prozent des Solds der Berufsoffiziere werden in Wirtschaftsunternehmen angelegt. Aus den Erträgen erhalten die Pensionäre eine zweite Altersrente.Die Gerechtigkeitspartei, die Nachfolgeorganisation der 1960 verbotenen Demokratischen Partei, repräsentierte den traditionell wirtschaftsliberalen Teil der Wählerschaft, während İnönüs Republikanische Volkspartei eher die Industriearbeiterschaft und die staatsnahen bürokratischen Eliten vertrat. Aus den allgemeinen Wahlen von 1965 ging die Gerechtigkeitspartei als Siegerin hervor; ihr Vorsitzender Süleyman Demirel übernahm nun als Ministerpräsident die Führung der Regierung. Mit der Arbeiterpartei der Türkei beteiligte sich an dieser Wahl auch eine Partei, die 1961 von linken Gewerkschaftern gegründet worden war. Mit der Wahl Bülent Ecevits zum Generalsekretär (1966), später zum Vorsitzenden (1972) der Republikanischen Volkspartei vollzog sich in der Republikanischen Volkspartei ein bemerkenswerter Linksruck. Ab 1967 nahmen die Spannungen zwischen linken und rechten Kräften zu. Wie in zahlreichen anderen Staaten der westlichen Welt bestimmten Studentenproteste das Jahr 1968. Die revoltierenden Studenten thematisierten zunächst Missstände an den Hochschulen, entwickelten aber rasch allgemeine Zielsetzungen, die von einer besonders gegen die USA gerichteten »antiimperialistischen« Grundhaltung geprägt waren. Als Gegner der »kommunistischen« Studenten formierten sich »Kommandos«, die dem turanisch-rassistischen Lager entsprangen. Am 12. März 1971 forderte der Generalstabschef in einem Memorandum die Regierung Demirel auf, die »Anarchie« im Lande alsbald zu beseitigen, andernfalls seien die Streitkräfte bereit, die Macht zu übernehmen. Nach dem Rücktritt Demirels bemühten sich nachfolgende Regierungen, dem Willen der Militärs zu entsprechen. Wesentliche Artikel der Verfassung von 1961 wurden jetzt — und erneut 1973 — abgeändert. In Fragen der nationalen Sicherheit konnte nun der Nationale Sicherheitsrat dem Ministerrat »Empfehlungen« erteilen. Besonders wurde die Autonomie der Universitäten, des Rundfunks und des Fernsehens beschnitten. Gegen linke Strömungen und kurdische Separatisten wurde in zahlreichen Provinzen das Kriegsrecht ausgerufen. Zwischen 1973 und 1975 urteilten Staatssicherheitsgerichte mehrere Tausend Menschen ab.Nach den Wahlen von 1973, aus denen die Republikanische Volkspartei mit 185 Abgeordneten als stärkste Partei hervorging, gefolgt von der Gerechtigkeitspartei (149) und der religiös orientierten Nationalen Heilspartei (48), bildeten die Republikanische Volkspartei und die Nationale Heilspartei eine Koalitionsregierung, die jedoch bald zerbrach. Die 2. Hälfte der Siebzigerjahre ging in die türkische Geschichte ein als die Zeit der Regierungen der »Nationalen Front« und des verschärften Terrors von rechts und links. Mordanschläge auf herausragende Politiker und Intellektuelle beherrschten die Schlagzeilen.Türkei seit 1980Unter dem Eindruck zahlloser politisch motivierter Morde (etwa 1500) sowie mehr als 115 Wahlgängen bei der Neuwahl des Staatspräsidenten ergriff die militärische Führung am 12. September 1980 wieder die Macht. Nachfolger des von 1973 bis 1980 amtierenden Staatspräsidenten Fahri Korutürk und Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrats wurde nunmehr General Kenan Evren. In einer neuen, vom Militär maßgeblich beeinflussten Verfassung wurde die Rolle des Nationalen Sicherheitsrats stark ausgebaut. Die kommenden zwei Jahrzehnte sollten jedoch zeigen, dass zahlreiche Bestimmungen dieser Verfassung sowie von Einzelgesetzen, zum Beispiel die Zehnprozenthürde im neuen Wahlgesetz, keine Gewähr für die Stabilität des politischen Systems boten. Allerdings verbesserte sich die innere Sicherheit und die wirtschaftliche Lage, wenn auch nur vorübergehend.Auf wirtschaftlichem Gebiet hatte Turgut Özal, 1979 bis 1980 Chef der Staatlichen Planungsorganisation, im Januar 1980 Wirtschaftsmaßnahmen durchgesetzt, die von Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds für eine liberale Öffnung der Wirtschaft nicht allzu weit entfernt waren. In der neuen Regierung — Özal war von 1983 bis 1989 selbst Ministerpräsident — setzte er diese Wirtschaftspolitik fort, mit der er hauptsächlich vier Ziele verfolgte: Flexibilisierung der Preise, Aufhebung der Kontrolle von Warenmengen, Rücknahme der staatlichen Beteiligung an der Wirtschaft, Kampf gegen Haushaltsdefizite, Inflation und wachsende Auslandsverschuldung. Der Abbau bürokratischer Hindernisse für ausländische Investoren und der Beginn der Privatisierung staatlicher Unternehmen lösten ein beachtliches Wirtschaftswachstum bis 1987 aus.Nach einem von der militärischen Führung vorgegebenen Muster entstanden nach dem Militärputsch im September 1980 neue Parteien, die sich jedoch nicht dauerhaft etablieren konnten, mit Ausnahme der Mutterlandspartei (ANAP), deren Vorsitzender Özal war, und die aus den Wahlen von 1983 als stärkste Partei hervorging. Bei den allgemeinen Wahlen von 1987 konnte sie ihren Erfolg wiederholen, obwohl inzwischen die vom Militär vorübergehend aus dem Verkehr gezogenen alten Parteiführer, allen voran Demirel und Ecevit, als Konkurrenten auftraten. 1989 ließ sich Özal als Nachfol- ger General Evrens zum achten Präsidenten der Republik wählen. Nach dem Tode Özals 1993 wurde Demirel in das höchste Staatsamt gewählt. Die Parlamentswahlen von 1995 gewann die islamistisch eingestellte, von Necmettin Erbakan geführte Wohlfahrtspartei; sie ging eine Koalition mit der Partei des Rechten Weges (DYP) ein, der Nachfolgeorganisation der Gerechtigkeitspartei, deren Vorsitzende Tansu Çiller war. Erbakan, seit 1996 Ministerpräsident dieser Koalition, trat 1997 unter dem Druck des Militärs zurück, das die republikanisch-laizistischen Traditionen in der Türkei von der Wohlfahrtspartei bedroht sah. Im Januar 1998 verbot das Verfassungsgericht die Wohlfahrtspartei wegen republikfeindlicher Aktivitäten. Als Ministerpräsidenten folgten: Mesut Yɪlmaz (Mutterlandspartei), ab Januar 1999 Bülent Ecevit (Volkspartei).Die Türkei und der Nahe und Mittlere OstenDer Ölschock des Jahres 1973 veranlasste die Türkei, sich stärker den arabischen Staaten anzunähern. Bis 1977 hatten sich die Ölkosten für die Türkei verdreifacht, während die türkischen Exporte im selben Zeitraum konstant blieben. Erst nach 1980 stiegen die türkischen Exporte in den Mittleren Osten an. Die Abtretung des Sandschak belastete die Beziehungen zu Syrien von Anfang an. In den Jahren des Kalten Kriegs markierte die türkisch-syrische Grenze die Interessensphären der Blöcke. Das gigantische Südostanatolien-Projekt (GAP), ein Bewässerungs- und Energiegewinnungsprogramm, wurde von Irak und vor allem Syrien als Bedrohung empfunden, obwohl die Türkei eine Mindestwassermenge garantierte. Damaskus benutzte Abdullah Öcalan, den dort im Exil lebenden Führer der kurdischen Aufständischen in der Türkei, als Faustpfand gegen türkische Ansprüche; Ende 1998 beantwortete Syrien die ultimative Forderung der Türkei nach dessen Auslieferung, indem es den Führer der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) auswies.Im Gegensatz zu Syrien hat Irak an die Türkei nie territoriale Ansprüche gestellt. Im Gegenteil, die Verwundbarkeit seiner Ölexporte hat das Land ebenso wie das gemeinsame Kurdenproblem zu einer engeren Kooperation gezwungen. Die türkische Seite hat Sicherheits- und Wirtschaftsfragen stets höher bewertet als ein Patronat über die turkmenische Bevölkerung Iraks, die unter zunehmendem Assimilationsdruck steht. Iran hatte der Krieg mit Irak (1980—88) zu einer pragmatischen Politik gegenüber der laizistischen Türkei gezwungen. Nach dessen Ende nahm die Einflussnahme Teherans im Sinne islamischer Kräfte in den Jahren 1988 und 1989 zu.Kernstück des Südostanatolischen Projekts ist der am 25. Juli 1992 eingeweihte Atatürk-Staudamm am Euphrat, der acht Milliarden Kilowattstunden jährlich liefern soll; die mit jeweils 26,7 km Länge größten Bewässerungstunnel der Erde sollen die Fruchtbarkeit der rückständigen Region heben. Bis 2005 sind 22 Dämme und 19 Kraftwerke geplant.Der KurdenkonfliktNach dem Militärputsch von 1980 verschärfte der türkische Staat die Repressionen gegen die kurdische Bevölkerung: So verbot ein Sprachgesetz vom 22. Oktober 1983, das erst 1991 wieder aufgehoben wurde, die öffentliche Meinungsäußerung in kurdischer Sprache. Die bereits 1978 unter Führung Abdullah Öcalans gegründete PKK begann 1984 den bewaffneten Kampf für einen eigenen Staat. 1987 verhängte die türkische Regierung in zahlreichen Provinzen Südostanatoliens den Ausnahmezustand: Dem Terror der PKK stand der Terror türkischer Sicherheitskräfte gegenüber. Während Präsident Turgut Özal sich ab 1991 bereit zeigte, den Kurdenkonflikt als ein Problem anzuerkennen, das einer politischen Lösung zugeführt werden müsse, konnte nach dessen Tod 1993 das Militär die Oberhand gewinnen. Kurdische Parteien wurden verboten, kurdische Parlamentarier wegen des Vorwurfs der Unterstützung der PKK zu hohen Haftstrafen verurteilt, Dörfer in den von Kurden besiedelten Gebieten entvölkert und umgesiedelt; bis zum Herbst 1996 kostete der Krieg etwa 25000 Menschen das Leben. Nach der weitgehenden Zerstörung der zivilen Infrastruktur durch militärische Maßnahmen gab Öcalan ab 1995 pankurdische Ansprüche auf und erklärte, auch andere kurdische Vertreter anzuerkennen. Gegenwärtig ist die PKK, in der ein militärischer und ein politischer Flügel gegensätzliche Ziele vertreten, militärisch wie politisch geschwächt: So verlor sie zum Beispiel im Zuge einer Verständigung zwischen den rivalisierenden kurdischen Parteien in Nordirak im September 1998 ihre dortigen Rückzugsgebiete und PKK-Chef Öcalan ist nach mehrmonatiger Flucht durch europäische und afrikanische Länder im Februar 1999 von türkischen Sicherheitskräften festgenommen worden. Eine Lösung des Kurdenkonflikts ist nicht in Sicht.Prof. Dr. Klaus KreiserGrundlegende Informationen finden Sie unter:Türkei: Kemal AtatürkAdanir, Fikret: Geschichte der Republik Türkei. Mannheim u. a. 1995.Ahmad, Feroz: The making of modern Turkey. Neudruck London u. a. 1996.Rethinking modernity and national identity in Turkey, herausgegeben von Sibel Bozdogan und Resat Kasaba. Seattle, Wash., 1997.Rumpf, Christian: Das türkische Verfassungssystem. Einführung. Mit vollständigem Verfassungstext. Wiesbaden 1996.Turkey. Political, social and economic challenges in the 1990s, herausgegeben von Çigdem Balim u. a. Leiden u. a. 1995.
Universal-Lexikon. 2012.